Kranker Hirsch mit seinem ziemlich besten Freund

von Gerd Tersluisen (Hegering Gladbeck)

An diesen Film des Regisseurs Oliver Nakasche erinnerte ich mich bei einer Begegnung mit zwei Hirschen am 13.05.2019 sofort, spiegelten meine Beobachtungen mit unserem Edelwild doch einige bemerkenswerte Szenen wider, die ich aus der Filmkomödie kannte.
Ich saß am 13.05.2019 gegen 19.00 Uhr an einer Schneise im Bereich der Wildruhezone eines Rotwildkernrevieres. Die Chance hier Wild zu begegnen, war ausgezeichnet. Gute Deckung nach hinten bot mir eine vierjährige Anpflanzung. Mit ihr verschmolz meine Körper- Gesichts- und Handtarnung. Ein aufgespanntes Tarnnetz der Bundeswehr erlaubte auch kleine Bewegungen, ohne ausgetretenes Wild zu vergrämen. Die Abendsonne strahlte mir ins Gesicht, der Wind blies aus Nord-West.

Um 19.12 Uhr wechselte plötzlich ein braver Rehbock auf mich zu, zog im Süden in unmittelbarer Nähe an mir vorbei und verschwand im Unterwuchs des Kiefern- und Birkenaltholzes. Gegen19.18 Uhr hob sich der Vorhang der Naturbühne. Vierzehn Stück Kahlwild erschienen tief im Süden des Kiefern- und Birkenaltholzes, zogen dort an einer Äsungsschneise entlang auf mich zu, überquerten die Schneise vor mir in ca. 80 m Entfernung und nahmen dort Äsung auf. Ihre grauen Jacken waren verschlissen und mussten offensichtlich dringend erneuert werden.  Noch aber tarnte das winterliche Grau sehr gut und bot dem Wild ausreichenden Sichtschutz. Immer und immer wieder setzten die Stücke ihren Lecker ein. Der Haarwechsel begann. Langsam zog das Kahlwild in das nördlich der Schneise liegende lichte Altholz. Auch hier stand ausreichend Äsung, die dem Rotwild bekam.

Plötzlich zog ein Alttier des Rudels auf meine Schneise und sicherte acht Minuten lang nach Süden. Ich erblickte auf ca. 300 Meter drei weitere Stücke Rotwild, kümmerte mich aber nicht um sie.
Das Alttier setzte sich jedoch in Bewegung und zog zu den drei zurückgebliebenen Rudelmitgliedern. Ich hatte den Eindruck, das Leittier (?) würde die Stücke auffordern, doch den Anschluss zum Rudel zu halten. Es drehte ab und trollte eilig an seinem Platz im großen Rudel zurück. Langsam folgten die drei Nachzügler. Zuerst trollte ein Alttier über meine Schneise. Ihm folgte ziehend ein junger Kolbenhirsch, der mehrfach zurückäugte.

Das Ende bildete ein weiterer Kolbenhirsch. Doch was war das? Der Hirsch zog nur sehr langsam. Seine gesamte Last schien auf den Vorderläufen zu liegen. Seine Keulen waren abgesenkt. Die rechte Keule wirkte knochig. An ihm baumelte kraftlos der Hinterlauf. Er wurde nicht aufgesetzt. Offensichtlich war der Hirsch sehr krank. Mit meiner mitgebrachten Kamera machte ich einige Aufnahmen, die den Revierleiter später sehr interessierten. Es war ein Bild des Jammers, das sich mir bot. Mehrfach schloss der Hirsch verhoffend seine Lichter. Ich hatte den Eindruck, dass er große Schmerzen verspürte. Der vorauseilende Hirsch verhoffte mehrfach, äugte zurück und ließ den kranken Freund aufschließen. Dabei konnte ich sehen, dass der rechte Hinterlauf oberhalb der Afterklaue abgetrennt war.

Welche Schmerzen musste dieser behinderte Hirsch aushalten?

Die Hirsche verschwanden mit dem Kahlwildrudel im Norden.
Um 20.12 Uhr kam das Rudel zurück und verhielt äsend auf der Schneise vor mir. Gegen 21.02 Uhr folgten ihm drei Hirsche gleichen Alters, der kranke Hirsch mit seinem Freund, sowie ein weiterer Junghirsch, den ich zum ersten Male sah. Das Kahlwild äugte immer wieder zum kranken Hirsch. Es hielt ständigen Kontakt zu ihm, bis er und die beiden anderen Hirsche ins Rudel zogen und mit ihm einwechselten.
Am 21.06.2019 kam es zu einer weiteren Begegnung. Zwischen 19.02 Uhr und 21.15 Uhr standen beide Hirsche, der kranke und sein bester Freund, vor mir auf der gleichen Schneise. Die Entfernung betrug zwischen 100 m und 150 m. Eine ideale Entfernung für Rotwildaufnahmen. Die Hirsche hatten ihre Geweihe bis zu den Kronen geschoben.

Im Geweih des kranken Hirsches war die Augsprosse der linken Stange abnorm verkrüppelt. Diese Abnormität entsprach den Lehrbuchmeinungen, dass die Stangen auf der der Verletzung gegenüber liegenden Seite von der Norm abweichen würden.
Der kranke Hirsch äugte immer wieder zum zweiten Hirsch, seinem offensichtlich besten Freund in dessen Verantwortung er sein Sicherheitsbedürfnis legte.
Während der sich aber in die Mitte der Äsungsfläche schob, hielt sich der kranke Hirsch weitestgehend in der Nähe des Bestandsrandeses auf. Gegen 21.00 Uhr gelangen mir einige Aufnahmen. Auf einer, aufgrund der schlechten Belichtung nicht ganz scharfen Aufnahme versucht der Hirsch sich mit dem Hinterlauf zu kratzen. Dabei kann man den Stumpf deutlich erkennen. Er machte den Eindruck, als hätte sich dort ein Stück Decke über den offenliegenden Knochen gezogen.
Der Hirsch wurde in der Zwischenzeit bejagt. Offensichtlich verließ er den sicheren Einstand nicht und wurde von seinem Freund bei Gefahr immer rechtzeitig gewarnt.
Jedenfalls kam er nur einmal außerhalb der Ruhezone in Anblick, konnte aber aufgrund der großen Entfernung von über 300 Metern nicht erlegt werden.

Der verantwortliche Revierleiter hat mir zugesagt, mich zum erlegten Hirsch zu rufen, damit ich die Laufverletzung dokumentieren kann. Der Hirsch ist jedenfalls nicht ohne Hilfe überlebensfähig. Dass er eine derart schwere Verletzung überhaupt bis heute überlebt hat, verdankt er mit Sicherheit nur seinem Freund, der einen großen Teil aller lebenswichtigen Aufgaben für ihn übernahm. Er hätte ja auch seiner Wege ziehen können.

Und so ähnelt die Gemeinschaft der Hirsche der des Phillipe Pozzo di Borgo und seines dunkelhäutigen Freundes Driss, zwei ziemlich besten Freunden.